Begegnungen: Er-Lebenswege



Heute habe ich Anna getroffen. 

Als ich sie überholen will, spricht sie mich gleich auf Deutsch an. Woran hat sie bloß erkannt, dass ich Deutsche bin?

Gar nicht, sagt sie. Aber sie spricht alle auf deutsch an, denn sonst kann sie keine Sprache. Naja, doch, ein bisschen Russisch. Das nützt hier nicht viel.

Sie ist nicht nur Pilgerin, sondern auch Aussteigerin. Seit Anfang 2020 ist sie unterwegs, wohin ihre Füße sie tragen. Manchmal bleibt sie auch ein paar Tage zum Mitarbeiten auf einem Bauernhof. Jetzt läuft sie erstmal nach Santiago und Fatima, bevor sie ihren langjährigen Traum verwirklicht und nach Sibirien läuft. Sie schafft das, da ist sie sehr zuversichtlich. 

Und das ohne gute Ausrüstung. Nur die Schuhe sind top. Die hat sie von Mitpilgern gesponsored bekommen. Kein Schlafsack, kein Zelt, keine Isomatte. 

Sie schläft draußen, ist ohne Geld unterwegs und ernährt sich von Beeren, Früchten und den Gaben netter Menschen. Sie braucht nicht viel und ist glücklich mit ihrem Leben. Sie will nicht zurück. Ja, sagt sie, "es ist oft anstrengend. Aber wenn ich daheim geblieben wäre, würde mein Traum niemals wahr." 

Ich könnte mir ihr Leben nicht vorstellen. Gegen ihre Entscheidung sind meine 4 Monate Auszeit auf dem Jakobsweg schon fast spießig. Ich aber empfinde diese Zeit als großes Geschenk, ich genieße sie und freue mich auch, danach wieder zurückzukehren. Ja, es gibt so vieles, auf das ich mich schon jetzt freue. 

Und so reden wir lange über die verschiedenen Lebenswege und die Kunst, den anderen so sein und leben zu lassen, wie er/sie es sich aussucht. 

Und das ist wahrlich nicht immer leicht. 


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